Von der Wundermaschine zum kritischen Tool

Berner Seeland , © Jonas Blum

Als sich Archäologe Timo Geitlinger vor ein paar Jahren zum ersten Mal an eine GIS-Software wagt, meint er, eine Wundermaschine vor sich zu haben. Heute hingegen weiss er, wie die Wunder zustande kommen und wie vielseitig und geschickt er die Software in seiner Forschung einsetzen kann.

«Ich bin für meine Bachelorarbeit 2019 zum ersten Mal in Kontakt mit GIS gekommen», erzählt Timo, und ergänzt: «GIS hat mich aber schon immer interessiert und ich habe darin grosses Potenzial gesehen.» Deshalb war für ihn auch klar, dass er mit einem GIS mehr als nur archäologische Fundstellen auf einer Karte abbilden wollte. Für die Bachelorarbeit hat Timo den eisenzeitlichen Naturraum des Berner Seelands (siehe Foto oben, © Jonas Blum) rekonstruiert und dafür verschiedene Analysen gemacht: «Ich habe unter anderem eine Sichtbarkeitsanalyse durchgeführt; d.h. ich habe berechnet, was und wie weit man von einem Punkt in der Landschaft sieht. Denn in der Archäologie ist Sichtbarkeit ein wichtiges Konzept: So sieht man oft von einem Grabhügel aus auf andere Grabhügel.» Learning by Doing war Timos Motto bei der Arbeit mit GIS. Was bei seinen Analysen herauskam, faszinierte ihn total: «GIS war wie eine Wundermaschine, die mir schöne Modelle und eindeutige Lösungen für meine archäologischen Fragen lieferte.»

Blick in die Wundermaschine
Zu Beginn war das okay für ihn. «Doch mit der Zeit wollte ich wissen, was genau im Hintergrund passiert, welche Annahmen die Software trifft und ob meine Vorgehensweise methodisch sauber ist», erklärt er. In seinem Masterstudium in Oxford, England, hat Timo deshalb einen GIS-Kurs beim Archäologen John Pouncett besucht und sich damit auseinandergesetzt, was im Hintergrund der Software abläuft, welche Parameter welchen Einfluss haben und welche Einschränkungen sich daraus ergeben. «Heute kann ich die Annahmen, die ich in einer Modellierung treffe, bewusst machen und sie im Text dann auch diskutieren.»

Im Kurs und auch später, als er neben ArcGIS Pro auch QGIS anwandte, hat Timo gemerkt, dass ihm das, was er sich zu Beginn mühevoll selbst beigebracht hatte, zugutekam. Es brauche ein bisschen Zeit, um in die GIS-Welt einzutauchen und die Begriffe kennenzulernen. «Denn je besser und genauer ich mein Problem formuliere, umso schneller finde ich online Hilfe dafür», meint Timo. Doch gerade zu Beginn sei es oft schwierig, mit den richtigen Stich- resp. Fachwörtern zu suchen, um gute Suchresultate zu erhalten.

  • Ähnlichkeitsnetzwerk
    Ähnlichkeitsnetzwerk für Grabbeigaben in Dorset (GB). © Timo Geitlinger

Datenverwaltung und Modellierung in einem
Zwar hat sich sein erster Eindruck der GIS-Software inzwischen relativiert, die Faszination für GIS blieb. Heute setzt Timo die GIS-Software geschickt auf vielfältige Weise ein. «Das beginnt schon im Feld, wo ich mit der App ArcGIS Collector die Fundstellen und Bohrpunkte anhand der Koordinaten genau lokalisieren und Fotos der ausgelegten Bohrkerne hinzufügen kann. Das erleichtert die Verwaltung der Daten sehr, weil ich nachher nichts mehr abtippen muss.» Die GIS-Software wird in der Archäologie auch eingesetzt, um potenzielle Fundstellen zu finden. «Wir leiten aus bekannten Fundstellen Standortfaktoren ab, denn für Siedlungen ist das Landwirtschaftspotenzial zum Beispiel ein wichtiger Faktor, und mit diesem und weiteren Standortfaktoren suchen wir nach neuen Siedlungen», erklärt Timo. Eine weitere Anwendung sei die Wegmodellierung: «Uns interessiert, wo früher Wege verlaufen sind und wie vernetzt die Menschen waren.» Altwegrekonstruktion nennt sich das in der Archäologie. Anhand eines Kostenalgorithmus und eines Höhenmodells können so beispielsweise Wege modelliert werden. Als Algorithmus wird ein sogenannter minimaler Kostenpfad (Least Cost Path) verwendet, wobei die Kosten als Zeit, Distanz oder mit einer anderen Funktion ausgedrückt werden können. «Je nach Höhenmodell und Algorithmus erhält man andere Ergebnisse, die man gegenüberstellen und diskutieren kann», meint Timo. Eine dritte GIS-Anwendung von Timo sind Netzwerkanalysen, basierend auf Ähnlichkeitsnetzwerken, anhand derer sich archäologische Objekte mit dem Raum verbinden lassen. Der verwendete Netzwerkfusionsalgorithmus wurde ursprünglich von Biologen*innen in der Genomik entwickelt, lässt sich aber auch auf die Archäologie anwenden. «Wir haben damit anhand von Grabhügelbeigaben untersucht, wie ähnlich Grabrituale sind und wie stark die Verbindungen zwischen einzelnen Gräbern sind», sagt er. Aus der Netzwerkanalyse wiederum lassen sich unter anderem Territorien rekonstruieren oder eine zeitliche Entwicklung der Beigaben feststellen.

Wahrscheinlichkeitsanalyse
Die Karte zeigt die Wahrscheinlichkeit an, wo die Wege von Riom nach Tiefencastel und umgekehrt verlaufen sein könnten. Die Wege wurden anhand eines minimalen Kostenpfades mit verschiedenen Kostenfunktionen ermittelt. © Timo Geitlinger

Wunsch: Archäologie-GIS
Dass Archäologen GIS-Zusatzprogramme aus der Biologie oder anderen Disziplinen nutzen, komme oft vor, meint Timo. «Wir Archäologen*innen reiten auf der GIS-Welle mit, aber die Software wurde nicht speziell für unsere Bedürfnisse entwickelt, weil wir eine zu kleine Zielgruppe sind.» Man müsse in der Archäologie deshalb einfallsreich sein, um zu guten Lösungen zu kommen, oder selbst programmieren. Ein GIS mit diversen archäologischen Zusatzprogrammen bleibt wohl ein Wunschtraum, vielleicht kann sich Timo aber bald seinen Traum erfüllen, ein agentenbasiertes Modell (Agent-based model) oder einen Hochleistungsrechner in seiner Forschung einzusetzen.

Timo Geitlinger

Timo Geitlinger ist Archäologe (M.Sc.) und beginnt voraussichtlich im 2023 seinen PhD an der Universität Zürich. Sein Forschungsgebiet sind protohistorische Gesellschaften, populärwissenschaftlich «Kelten» genannt. Dabei interessiert er sich insbesondere für Landschafts- und Siedlungsarchäologie. GIS setzt er in seiner Forschung für die Wegmodellierung sowie für Network- und Predictive-Modelling ein.

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ArchaeoTimo auf Github

Das grosse Foto (© Jonas Blum) zu Beginn des Posts zeigt das Berner Seeland aus der Vogelperspektive.

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